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Programm der Feier der Enthüllung des Moses Mendelssohn-Denkmals am 18. Juni 1890 in Dessau

Quellenkritische Einordnung

In den ersten Jahren nach der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 fanden die Bemühungen um die Erneuerung der nationalen Erinnerungskultur ihren Ausdruck in einer steigenden Anzahl von Jubiläumsfeierlichkeiten und Denkmalsbewegungen. 1879 waren gleich drei Jubiläen zu begehen, die inhaltlich miteinander in Beziehung standen: der 150. Geburtstag des Dichters Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der ebenfalls 150. Geburtstag seines Freundes, des bedeutenden jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786), und der 100. Jahrestag des Erscheinens von Lessings Ideendrama „Nathan der Weise“, für dessen Hauptfigur Mendelssohn als Vorbild diente. Anlässlich des dreifachen Jubiläums erschienen zahlreiche Aufsätze und Zeitungsartikel. Der Deutsch-Israelitische Gemeindebund gab unter anderem ein „Lessing-Mendelssohn-Gedenkbuch“ heraus. Auf diese Weise rückten die Persönlichkeit Moses Mendelssohns und seine Rolle als Vermittler zwischen Juden und Nichtjuden wieder stärker in das öffentliche Bewusstsein.

In Mendelssohns Geburtsstadt Dessau fanden sowohl zu seinem 150. Geburtstag als auch wenige Jahre später zu seinem 100. Todestag am 4. Januar 1886 Feierlichkeiten statt. Bei der Vorbereitung der Veranstaltungen zum Todestag entstand im Festkomitee unter Leitung des damaligen Oberbürgermeisters Dr. Friedrich Funk (1847-1897) die Idee, für den berühmten Aufklärer in seiner Geburtsstadt ein öffentliches Denkmal zu errichten. Unterstützt wurde das Projekt durch Vertreter der Mendelssohnschen Familie und des liberalen deutschen Judentums. In neo-orthodoxen Kreisen stieß es hingegen aus religionsgesetzlichen Gründen, die eine plastische Darstellung des Menschen als Ebenbild Gottes untersagten, auf Ablehnung. Kritik wurde dabei auch an der liberalen Deutung von Mendelssohns Persönlichkeit geübt.

Ein Aufruf des Denkmalkomitees vom November 1885 fand große Resonanz, und schon bald standen genügend Spendengelder zur Verfügung, sodass 1887 zwei Ausschreibungen für die Gestaltung des Denkmals erfolgen konnten. Die Jury entschied sich für einen Entwurf des Bildhauers Heinz Hoffmeister (1851-1894), den dieser gemeinsam mit dem Architekten Heinrich Stöckhardt (1842-1920) umsetzte.

Im Denkmalkomitee wirkte neben anderen prominenten jüdischen und nichtjüdischen Persönlichkeiten der Stadt der Geheime Hofrat und Hofbibliothekar Dr. Wilhelm Hosäus (1827-1900) mit, der auch als Regionalhistoriker, Dramatiker und Dichter tätig war. Teile seines schriftlichen Nachlasses werden in der Abteilung Dessau des Landesarchivs Sachsen-Anhalt verwahrt. Dazu gehört auch das hier präsentierte Programm der Feier zur Enthüllung des Moses Mendelssohn-Denkmals in den Grünanlagen am neu gestalteten Bahnhofsvorplatz in Dessau am 18. Juni 1890.

 

Inhaltliche Einordnung

Das Programm vermittelt einen Eindruck vom Ablauf der Feier. Der Dessauer Sängerbund unter Leitung des Hofkapellmeisters Eduard Thiele (1812-1895) und ein Musikcorps begleiteten die Veranstaltung. Die im Programm abgedruckten Texte der Chorgesänge, die zu Kompositionen von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847), einem Enkel Moses Mendelssohns, erklangen, stammen aus der Feder von Wilhelm Hosäus.

Im Anschluss an den eröffnenden Chorgesang hielt Prof. Dr. Adolf Lasson (1832-1907), Dozent an einem Berliner Lyzeum und Privatdozent der Philosophie an der Berliner Universität, die Festrede. Lasson würdigte Mendelssohns Leistungen in der Epoche der Aufklärung und stellte ihn als Wegbereiter für die Integration der Juden in das Kulturleben der deutschen Nation heraus.

Als Nächster sprach der anhaltische Landesrabbiner Dr. Samson Weiße (1857-1946), der Mendelssohns enge Beziehung zu Dessau und sein Wirken für die Akkulturation der Juden – ihre Anpassung an die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft unter Wahrung ihrer religiös-kulturellen Identität – hervorhob.

Danach folgte, von einem Chorgesang begleitet, die Enthüllung des Denkmals. Im Namen der jüdischen Gemeinde Dessaus übergab der Landesrabbiner Dr. Weiße das Denkmal an die Stadt. Oberbürgermeister Dr. Funk erklärte, dass die Stadt das Denkmal übernehmen, bewahren und erhalten wolle.

An der Denkmalseinweihung nahmen Herzog Friedrich I. von Anhalt (1831-1904), seine Gemahlin Antoinette (1838-1908) und weitere Mitglieder des herzoglichen Hauses gemeinsam mit den führenden Köpfen der Landesregierung und der städtischen Behörden, der Dessauer jüdischen Gemeinde, Mitgliedern der Familie Mendelssohn und wichtigen Vertretern des liberalen deutschen Judentums teil, darunter der Magdeburger Rabbiner Dr. Moritz Rahmer (1837-1904). Sie setzten damit ein Zeichen für die Akzeptanz der rechtlichen Gleichstellung und zunehmenden Integration jüdischer Mitbürger und gegen aufkeimende antisemitische Tendenzen im Deutschen Kaiserreich.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde das Moses Mendelssohn-Denkmal 1933 aus den Grünanlagen am Dessauer Hauptbahnhof entfernt und in den Eingangsbereich des Israelitischen Friedhofs umgesetzt. Dort stand es bis zu seiner gewaltsamen Demontage in der Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November 1938.

Überlieferungsgeschichte

Korrespondenzen und Manuskripte des Hofrats und Hofbibliothekars Wilhelm Hosäus (1827-1900) gelangten nach dessen Tod gemeinsam mit anderen Unterlagen aus der Hofverwaltung des anhaltischen Herzogshauses in das Haus- und Staatsarchiv Zerbst und wurden später zu dem heute im Landesarchiv Sachsen-Anhalt überlieferten Teilnachlass „E 122 Wilhelm Hosäus“ formiert. Darunter befindet sich unter anderem ein Briefwechsel zur Entstehung und Einweihung des Moses Mendelssohn-Denkmals in Dessau aus den Jahren 1887 bis 1890, einschließlich des hier vorgestellten Festprogramms.

Die Quellen aus dem Teilnachlass E 122 Wilhelm Hosäus sind online recherchierbar und können im Lesesaal in Dessau eingesehen werden.